Öffentliche Statistiken über Zwangsmaßnahmen einzelner psychiatrischer Anstalten fördern die Selbstregulierung, Oprimierung und sind ein kostengünstiges Instrument zur Umsetzung der UN Resolution gegen Zwang, Gewalt, Übermedikation und willkürliche Einweisungen in die Psychiatrie
29. April 2021
Sehr geehrte ...
der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen hat nach seiner 43. Tagung in einer aktuellen Resolution die Wichtigkeit seiner früheren Resolutionen zum Schutz der Menschenrechte in der Psychiatrie betont und drängt die Staaten auf Umsetzung der erarbeiteten Strategie um Zwang, Gewalt, Übermedikation, Missbräuche, Freiheitsberaubung und willkürliche Einweisungen etc. ein Ende zu setzen. Die Resolution wurde am 19. Juni 2020 verabschiedet und ist hier veröffentlicht:
https://undocs.org/A/HRC/RES/43/13
In der Anlage erhalten Sie unsere Übersetzung der besonders begrüßenswerten neuen Standards.
Die Umsetzung und Durchsetzung dieser Standards muss in Deutschland erst noch bewältigt werden. Die permanente Veröffentlichung der Statistiken jeder Psychiatrie über die Anzahl der durchgeführten Zwangsmaßnahmen würde erheblich zur schnelleren Umsetzung der neuen Standards beitragen. Die Zahl der für nötig empfundenen Zwangsmaßnahmen unterschiedlicher psychiatrischer Einrichtungen weichen teils erheblich voneinander ab. Ein Vergleich diese Zahlen würde positive wie auch negative "Ausreißer" sichtbar machen und somit erfolgreiche wie auch weniger erfolgreiche Methoden beim Umgang mit Patienten. Der Vergleich würde somit automatisch zu einer Optimierung und einer gewissen Selbstregelung führen.
Auf diese Weise würde Deutschland der Umsetzung der oben genannten Resolution schneller näher kommen. Die Kosten für diese Maßnahme wäre sehr gering.
Die Einführung dieser Vergleichsmöglichkeit für alle psychiatrischen Krankenhäuser in Deutschland würde die Anzahl der durchgeführten Zwangsmaßnahmen deutlich verringern und mehr und mehr die Verbreitung von effektiven Lösungen und Alternativen zur Zwangsbehandlung fördern!
Wir bitten Sie um Ihr politisches Engagement, sich dafür einzusetzen, dass jedes psychiatrische Krankenhaus eine monatliche und jährlich kumulative Statistik seiner ausgeführten Zwangsmaßnahmen (Fixierungen, Zwangsbehandlungen) im Verhältnis zur Anzahl seiner Patienten führt und diese auf seiner Internetseite veröffentlicht.
Begründung:
Ein Instrument der Wettbewerbsanalyse wird in der Wirtschaft Benchmarking* genannt.
Benchmarking bedeutet der kontinuierliche Vergleich von Produkten, Dienstleistungen sowie Prozessen und Methoden mit mehreren Unternehmen, um die Leistungslücke zum sog. Klassenbesten (Unternehmen, die Prozesse, Methoden etc. hervorragend beherrschen) systematisch zu schließen. Grundidee ist es, festzustellen, welche Unterschiede bestehen, warum diese Unterschiede bestehen und welche Verbesserungsmöglichkeiten es gibt. (*Die Ethymologie finden Sie am Ende dieses Schreibens).
Im Bereich Psychiatrie würde die Einführung von Benchmarking bewirken, dass die Umsetzung der UN-Resolution kostengünstig und sehr einfach beschleunigt wird:
Die Einführung und Veröffentlichung einer Statistik über die Anzahl durchgeführter Zwangsmaßnahmen pro Patientenzahl für jedes psychiatrische Krankenhaus würde automatisch zu einem Selbstregulierungseffekt führen.
Krankenhäuser, die mit einer geringeren Anzahl der umstrittenen Maßnahmen auskommen, geraten in den Fokus derer, die sich für neue erfolgreiche Konzepte und Wege interessieren. Krankenhäuser, die sich gezwungen fühlen sich häufiger zum Wohle ihrer Patienten über deren Willen hinwegsetzen zu müssen, geraten automatisch in den Fokus für mögliche Ursachenforschungen und Korrekturmaßnahmen. Als Resultat steigt das Vertrauen der Patienten und das Personal wird gleichzeitig für sein Verständnis, Mitgefühl und vor allem für das Geschick im Umgang mit den ihnen anvertrauten Schützlingen anerkannt und bestätigt.
Dies käme der Umsetzung der UN-Resolution stark entgegen:
So fordert der Menschenrechtsrat die Staaten unter Punkt 6. nachdrücklich auf, aktive Schritte zu unternehmen um alle Formen der Gewalt, Missbrauch, rechtswidrige oder willkürliche Freiheitsberaubung und Einweisung sowie Übermedikamentierung zu beseitigen.
Unter Punkt 7. wiederholt der Menschenrechtsrat die Forderung an die Staaten einen Paradigmenwechsel im Bereich der psychischen Gesundheit zu fördern, gegenüber einem Modell, das auf der Dominanz biomedizinischer Interventionen, Zwang, Medikalisierung und Hospitalisierung beruht.
Unter Punkt 8. werden die Staaten aufgefordert, alle Praktiken und Behandlungen aufzugeben, bei denen die Rechte, die Autonomie, der Wille und die Präferenzen aller Personen nicht gleichberechtigt mit anderen respektiert werden und die zu Machtungleichgewichten, Stigmatisierung, Diskriminierung, Schaden und Menschenrechtsverletzungen und -missbrauch in psychiatrischen Einrichtungen führen.
Punkt 9. fordert die Sicherstellung, dass Menschen mit psychischen Gesundheitszuständen oder psychosozialen Behinderungen, einschließlich der Nutzer psychosozialer Dienste, gleichberechtigt mit anderen Zugang zur Justiz haben, unter anderem durch die Bereitstellung von verfahrenstechnischen und altersgerechten Unterkünften.
Punkt 14. ermutigt die Staaten nachdrücklich, Menschen mit psychischen Gesundheitszuständen oder psychosozialen Behinderungen dabei zu unterstützen, sich selbst zu befähigen, ihre Rechte zu kennen und einzufordern, unter anderem durch Förderung der Gesundheits- und Menschenrechtskompetenz, Menschenrechtserziehung und -ausbildung für Gesundheits- und Sozialarbeiter, Polizei, Vollzugsbeamte, Gefängnispersonal und andere einschlägige Berufe unter besonderer Berücksichtigung der Nichtdiskriminierung, der freien und informierten Zustimmung und der Achtung des Willens und der Präferenzen aller, der Vertraulichkeit und der Privatsphäre sowie des Austauschs bewährter Praktiken in dieser Hinsicht.
Quelle: UN Resolution A/HRC/43/13:
https://undocs.org/A/HRC/RES/43/13
Anlage: Auszug in deutscher Übersetzung
Die Einführung eines Benchmarking für alle psychiatrischen Krankenhäuser in Deutschland würde die Anzahl der durchgeführten Zwangsmaßnahmen deutlich verringern und mehr und mehr die Verbreitung von Lösungen und Alternativen zur Zwangsbehandlung fördern!
In der Zeitschrift Psychiatrische Praxis 05/2013 heißt es u.a.:
Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie bieten vor ethischem, moralischem und historischem Hintergrund wiederholt Anlass zur öffentlichen Debatte und stehen im Spannungsfeld zwischen Medizin und Legislative, Fürsorgepflicht und Autonomiewahrung, Behandlung und "Verwahrung". Weder die Weiterentwicklung psychiatrischer Therapiekonzepte, noch der Dialog mit Betroffenen haben dieses Thema bisher ausreichend berührt. Zwangsmaßnahmen umfassen im Folgenden die Freiheitsentziehung (Unterbringung) ebenso wie die mechanische und pharmakologische Fixierung (Zwangsmedikation) gegen den ausdrücklichen Willen des Patienten. Diese Maßnahmen sollen im klinischen Alltag dem Schutz des Patienten vor sich selbst auch dem des Klinikpersonals und weiteren Betroffenen helfen. Nach aktueller Studienlage werden in Europa und den USA bis zu ein Drittel aller aufgenommenen Patienten auf psychiatrischen Akutstationen Zwangsmaßnahmen wie Isolation, Fixierung oder parenteraler Medikation ausgesetzt.
In Deutschland zeigen sich deutliche regionale Schwankungen, sowohl zwischen einzelnen Bundesländern als auch zwischen städtischen und ländlichen Regionen.
Der Deutsche Ethikrat hörte erst im Januar 2017 in Berlin Sachverständige zum Thema „Zwang in der Psychiatrie“ an.
Das Ärzteblatt online berichtete darüber am 24. Februar 2017:
Es war „die größte Anhörung, die der Ethikrat je durchgeführt hat“, betonte der Vorsitzende Peter Dabrock. Dabei ging es im Wesentlichen um Zwangseinweisungen, Zwangsbehandlungen, aber auch um die strukturellen Zwänge in der Psychiatrie.
Von den rund 420 psychiatrischen Kliniken in Deutschland hätten 400 eine geschlossene Abteilung, nur rund 20 verzichteten auf eine solche, berichtete Martin Zinkler, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik der Kliniken Landkreis Heidenheim. „Die Spanne der Fälle angewandter Zwangsmaßnahmen in den Kliniken variiert stark von teils nur ein Prozent bis hin zu rund zehn Prozent“. In seiner Klinik werde auf neuroleptische Zwangsmaßnahmen und auch auf „Zwangszimmer“ verzichtet, wenngleich manchmal doch Fixierungen vorgenommen werden müssten. „Meiner Ansicht nach befördert Zwang nur den Drehtüreffekt und sollte nur angewandt werden, wenn Lebensgefahr besteht.“
Vor allem in stationären Einrichtungen sind nach Ansicht des Ethikrates Maßnahmen zu beobachten, „die aufgrund ihres Zwangscharakters einen schwerwiegenden Eingriff in die Grundrechte der betroffenen Personen darstellen, sodass sie in besonderem Maße ethisch und rechtlich rechtfertigungspflichtig sind“.
In der Zeitschrift Psychiatrische Praxis 05/2013 heißt es u.a. weiter:
Unterbringung, Zwangsmedikation und Fixierung stellen für psychiatrische Patienten häufig eine starke Belastungssituation dar. Im Kontext des stationären Gesamtaufenthalts und akuten Gesundheitszustands birgt die Zwangsmaßnahme einen zusätzlich belastenden Faktor in Form negativer Emotionen, welche auch Wochen nach der Zwangsmaßnahme noch vorhanden sein können und deren Bewältigung teilweise bei der weiteren Behandlung des Patienten außer Acht gelassen wird. Vor allem die Fixierung wird von Patienten häufig als belastend oder sogar traumatisierend erlebt und wird von negativen Gefühlen wie z. B. Angst, Hass, Erniedrigung oder Ohnmacht begleitet. Insgesamt können erlebte Zwangsmaßnahmen nicht nur die Remission des Patienten nachteilig beeinflussen, sondern sich auch auf grundlegende Faktoren des „Gesundwerdens“ an sich, wie das allgemeine Wohlbefinden und die Patientenzufriedenheit, auswirken. Die Patientenzufriedenheit spiegelt die Sicht der Patienten wider und stellt als Qualitätseinschätzung eine wichtige Dimension des Behandlungserfolgs dar. Diese subjektive Einschätzung hat einen prädiktiven Stellenwert für den Patienten und bereits ihre Erfassung kann die Behandlungscompliance verbessern. Die Zufriedenheit der Patienten mit der ersten Behandlungswoche scheint, besonders bei unfreiwilligen Behandlungen, einen Zusammenhang mit der objektiven wie subjektiven Genesung des Patienten nach einem Jahr zu haben.
Die Einführung eines verpflichtenden Benchmarkings für Zwangsmaßnahmen in psychiatrischen Kliniken könnte die Transparenz in diesem Bereich erheblich verbessern und von großer Bedeutung sowohl im klinischen Qualitätsmanagement als auch in der Wahrung der Menschenwürde und Rechtsstellung des Patienten sein.
Gerichte und Gesetzgeber müssen sich in Deutschland wiederholt mit dem Thema befassen.
Die vom Bundesverfassungsgericht zur Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug entwickelten Maßgaben können auch auf die Zwangsbehandlung im Rahmen der öffentlich-rechtlichen Unterbringung übertragen werden. Dies hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts mit Beschluss vom 19.07.2017 (2 BvR 2003/14) bekräftigt und die Rechtsgrundlage für die medizinische Zwangsbehandlung im Psychischkrankengesetz des Landes Mecklenburg-Vorpommern in der bis zum 30. Juli 2016 gültigen Fassung für mit dem Grundgesetz unvereinbar und nichtig erklärt.
BVerfG Pressemitteilung vom 16.08.2017:
http://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2017/bvg17-071.html
BVerfG Beschluss vom 19.07.2017:
http://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2017/07/rs20170719_2bvr200314.html
Diese Entscheidung ist die vierte in einer Reihe gleichartiger Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, in denen der jeweilige Paragraf des Landesgesetzes, der die psychiatrische Zwangsbehandlung regelte, für verfassungswidrig und nichtig erklärt wurde.
UN-Sonderberichterstatter fordert drastische Änderungen in der Psychiatrie
Am 06.06.2017 forderte der unabhängige UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Gesundheit, Dainius Puras, weltweit einen Paradigmenwechsel im psychiatrischen System. Er hält die UN-Mitgliedsstaaten und Psychiater dazu an, mit Mut und Entschlossenheit ein krisengebeuteltes System zu reformieren, das auf veralteten Grundfesten steht. „Wir brauchen nichts weniger als eine Revolution im Bereich der geistigen Gesundheit, um Jahrzehnte voller Versäumnisse, Missbrauch und Gewalt zu beenden“, sagte Herr Puras, nachdem er dem UN-Menschenrechtsrat in Genf seinen Bericht präsentierte:
„In den Ländern, in denen psychiatrische Systeme existieren, sind sie vom restlichen Gesundheitssystem abgetrennt und basieren auf veralteten Praktiken, welche die Menschenrechte verletzen. Ich rufe die Staaten dazu auf, sich von herkömmlichen Praktiken und Denken zu lösen und einen längst überfälligen Grundsatzwechsel mit Blick auf die Menschenrechte zu ermöglichen. Der Status quo ist schlicht unakzeptabel.“
…
„Das psychiatrische System mit seinen Richtlinien und Diensten befindet sich in einer Krise – keine Krise des chemischen Ungleichgewichts, sondern ein Ungleichgewicht der Kräfte. Wir brauchen mutiges politisches Engagement, dringende Richtlinien und sofortige Abhilfen.“
Quelle:
https://www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=21689&LangID=E
Für weitere Informationen oder für eine anonymisierte Zusammenstellung von Menschenrechtsverletzungen in der Psychiatrie, wie Betroffene sie uns regelmäßig mitteilen, wenden Sie sich gerne an unseren Verein.
Mit freundlichen Grüßen
Bernd Trepping
Vorstand
Kommission für Verstöße der Psychiatrie
gegen Menschenrechte Deutschland e.V.
Beichstr. 12 Seiteneingang
80802 München
Tel.: 089 - 273 03 54
info@kvpm.de, www.kvpm.de
Vereinssitz München, VR 8166 Amtsgericht München
Die deutsche Kommission wurde 1972 von Mitgliedern
der Scientology Kirche in München gegründet.