Sexueller Missbrauch in der Therapie - neuer § 174c StGB im Jahr 1998

 

"Der Bundesrat hat einen Vorschlag für die Einfügung eines § 174c ins Strafgesetzbuch vorgelegt ... Es ist also so, dass Ihre Forderung breite Unterstützung findet."

- Prof. Dr. Edzart Schmidt-Jorzig, 1996
früherer Bundesminister der Justiz in einem Schreiben an die KVPM

Von 1999 bis 2010 wurden 150 Psychiater bzw. Therapeuten wegen sexuellen Missbrauchs nach § 174c StGB verurteilt.
(Quelle: Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 3, Blatt 2.1)

Sexueller Missbrauch durch Psychiater, Psychologen und andere Therapeuten war vor dem 8. November 1991 in Deutschland eigentlich kein Thema. Warum? Weil die Opfer beweisen mussten, dass sie gegenüber sexuellen Übergriffen "widerstandsunfähig" waren. Es gab keine Grundlage im Strafgesetzbuch gegen sexuellen Missbrauch in der Therapie.

Exemplarisch ist der Fall des Psychiaters Enkelmann, den Gisela Friedrichsen in einem fundierten Artikel im SPIEGEL (26/1993) dokumentiert hat. Ihre Beschreibung Enkelmanns könnte auf jeden anderen Psychiater oder Psychologen zutreffen, der sich an seinen Patienten vergeht: "Der Dr. Rainer Enkelmann aber, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, man stelle sich ihn im weißen Mantel vor, Vollbart, makellos gepflegte Hände, Autorität und Kompetenz ausstrahlend...
Ehemalige Patientinnen erwähnen seine vertrauenseinflößende, beruhigende Stimme. Er habe zuhören können. Sie hätten ihm ihre intimsten und geheimsten Wünsche und Bedrängnisse offenbart, Dinge, über die sie nicht mit ihren Eltern, ihren Ehemännern, auch nicht der besten Freundin hätten sprechen können. Sie hätten sich ihm anvertraut."

Zum Psychiater, zum Psychologen, zum Psychotherapeuten kommen Menschen oft in ihrer letzten Not, wenn sie nirgendwo sonst Hilfe finden. Für viele ist der Therapeut der letzte Ausweg, einen Freund zu gewinnen, dem man all seine Ängste und Nöte anvertrauen kann. Wenn die erwartete Hilfe durch die Macht des Psychiaters in ein ungewolltes sexuelles Verhältnis abgleitet, wird die vorgebliche Hilfe zum Betrug.

In Deutschland gab es lange Zeit kein Gesetz, das Patienten vor sexuellen Übergriffen schützte. In manchen Fällen missbrauchten Psychiater ihre wehrlosen Opfer wieder und wieder. Selbstmordgedanken und tiefe seelische Schäden sind die Regel. Die quälenden Selbstvorwürfe in der Folge von entwürdigenden sexuellen Handlungen durch Therapeuten können durch zahlreiche Aussagen von Opfern bestätigt werden.

Von Psychiatern oder Psychologen sexuell missbrauchte Patienten hatten kaum Chancen vor Gericht. Gemäß § 179 Strafgesetzbuch konnten sich die zumeist weiblichen Opfer auf Widerstandsunfähigkeit nur berufen, wenn bei ihnen eine "krankhafte seelische Störung, eine tiefgreifende Bewusstseinsstörung oder Schwachsinn oder eine schwere andere seelische Abartigkeit" festgestellt worden war.

Konnte eine Patientin mit einem derart massiven Befund nicht aufwarten und beweisen, dass sie sich nicht wehren konnte, konnte keiner dem Psychiater oder Therapeuten das schmutzige Handwerk legen. In der Regel verloren die Frauen bereits dadurch, dass ihnen vom Gericht nicht genug Glauben geschenkt wurde. Warum sollte man eine Psychiatriepatientin ernst nehmen?

Die Citizens Commission on Human Rights (CCHR) befasst sich international seit Jahrzehnten und in vielen Ländern der Erde mit diesem Thema. In Deutschland startete die Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte e.V. (KVPM) 1990 eine beispiellose Aufklärungskampagne.

Nach umfangreichen Untersuchungen und vertraulichen Gesprächen mit Patienten, die von ihrem Therapeuten sexuell missbraucht worden waren, erarbeitete die KVPM im März 1993 einen Gesetzesvorschlag, der Eingang in das deutsche Strafgesetzbuch finden sollte, um so endlich eine Handhabe gegen diese kriminellen Praktiken zu haben.

Kaum hatte der Verein sich dieser brisanten Sache angenommen, wurden nach und nach mehr Missbrauchsfälle bekannt. 8,6 % der deutschen Therapeuten und Psychologen werden mit ihren Patienten intim, fand die Universität Hamburg heraus.

Die renommierte Verhaltensforscherin Dr. Irmgard Vogt aus Frankfurt brachte zutage: "30 % der Suchttherapeuten und Berater in der Suchtkrankenhilfe wissen von sexuell intimen Verhältnissen mit Klientinnen und Therapeuten."

Die Kommission sandte ihren Gesetzesvorschlag zur Bestrafung von sexuellem Missbrauch in der Therapie an Hunderte von Abgeordneten, Ministerien und betroffene Organisationen, um deren Aufmerksamkeit auf diese eklatante Gesetzeslücke zu lenken.

Zahllose Schreiben von deutschen Politikern und Behördenvertretern quer durch alle politischen Parteien trafen bei der KVPM ein. Mit großer Mehrheit wurde Unterstützung für die Initiative der Kommission zugesagt, eine Gesetzesänderung herbeizuführen. Die KVPM sensibilisierte zudem auch große Teile der deutschen Medienlandschaft für ihr Anliegen, was zur Meinungsbildung in der Öffentlichkeit beitrug.

1996 versandte die Kommission mehr als 10 000 Exemplare einer Aufklärungsbroschüre über sexuellen Missbrauch an Abgeordnete, Journalisten, Selbsthilfegruppen und andere. Im selben Jahr reisten Kommissionsmitarbeiter mit der Betroffenen Frau K. nach Brüssel, wo sie vor einem Expertenausschuss der CCHR International berichtete, wie sie von ihrem Psychiater sexuell missbrauch wurde.

1998 schließlich konnten die Kommission und ihre Mitstreiter endlich die Früchte ihrer Arbeit ernten: Der Bundestag verabschiedete fast gänzlich den von der Kommission vorgeschlagenen Gesetzeszusatz im Strafgesetzbuch, den § 174c.

Der anfangs beschriebene Psychiater Dr. Rainer Enkelmann, der sich jahrelang straflos an seinen Patientinnen vergangen hatte, wurde schließlich von einem Schöffengericht in St. Goar wegen sexuellen Missbrauchs zu dreieinhalb Jahren Gefängnis und lebenslangem Berufsverbot verurteilt. Ermöglicht wurde dies aufgrund mutiger Frauen, die ihr Schweigen brachen und durch das Engagement der KVPM.

 Das neue Gesetz gegen Sex in der Therapie: