Aktueller WHO-Bericht spricht sich klar gegen psychiatrische Zwangspraktiken aus – Menschenrechtsverein fordert Umsetzung in Deutschland
München, den 17.06.2021
Sehr geehrte ...
die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat am 10. Juni 2021 einen eindrucksvollen Bericht veröffentlicht, der sich konsequent und ausnahmslos gegen psychiatrische Zwangspraktiken ausspricht.
Zwangspraktiken seien „weit verbreitet und werden in zunehmendem Maße in Diensten in Ländern auf der ganzen Welt eingesetzt, obwohl es keine Beweise dafür gibt, dass sie irgendeinen Nutzen bieten, und obwohl es signifikante Beweise dafür gibt, dass sie zu physischen und psychischen Schäden und sogar zum Tod führen“, heißt es in dem Bericht.
Die WHO verweist u.a. auf das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD), das im Wesentlichen ein Verbot von "Zwangseinweisungen und Zwangsbehandlungen" fordert.
Quelle:
“Guidance on Community Mental Health Services: Promoting Person-Centered and Rights-Based Approaches”, World Health Organization, 10. Juni 2021, https://www.who.int/publications/i/item/9789240025707
Der Bericht kann dort im Volltext heruntergeladen werden (245 Seiten PDF, englisch)
Die weltweite Übereinstimmung gegen Zwang und für eine menschliche Psychiatrie findet seit Jahren weltweit übereinstimmenden Zuspruch. Hier eine Zusammenfassung einiger der bedeutendsten Instanzen und Gremien:
2017: Der UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Gesundheit, Dainius Puras, selbst Psychiater, fordert weltweit einen Paradigmenwechsel im psychiatrischen System um "Jahrzehnte voller Versäumnisse, Missbrauch und Gewalt zu beenden".
26. Juni 2019: Die Menschenrechtskommissarin des Europarates, Dunja Mijatović, hält eine Rede mit dem Titel:"Es ist an der Zeit, den Zwang in der Psychiatrie zu beenden".
14. Februar 2020: Der UN-Sonderberichterstatter für Folter, Prof. Nils Melzer, veröffentlicht einen neuen Bericht, in dem er in mehreren Facetten von folterartigen Zuständen in der Psychiatrie schreibt.
19. Juni 2020: Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen verabschiedet eine Resolution, um die Staaten zu drängen Zwang, Gewalt, Übermedikation, Missbräuche, Freiheitsberaubung und willkürliche Einweisungen in die Psychiatrie ein Ende zu setzen.
Beinahe 70 Jahre hat es gedauert, bis Menschenrechtler und engagierte investigative Journalisten und Historiker genügend Druck aufgebaut haben, so dass die psychiatrischen Standesorganisationen endlich ihre Archive öffneten. Endlich konnten Historiker und dann die Öffentlichkeit erkennen, welche maßgebliche Rolle Psychiater als Architekten des Massenmords innehatten. Psychiater brauchten die Nazis, um ihre Patienten zu töten.
Am 6. August 1999 gehörte der Journalist Ernst Klee zu den Vorreitern. Er erklärte im Vortrag „Wer Täter ehrt, mordet ihre Opfer noch einmal“ an der Universität Hamburg:
„1940/41 werden in insgesamt sechs Vergasungsanstalten 70.273 Menschen ermordet. Das Gas liefern die IG Farben Ludwigshafen. Das Zahngold der Ermordeten bekommt die Degussa. Die Gehirne verarbeiten das Kaiser-Wilhelm-Institut für Gehirnforschung in Berlin und das Kaiser-Wilhelm-Institut für Psychiatrie in München (beide heute Max-Planck-Institute). Den Gasmord organisiert eine Zentralstelle in der Berliner Tiergartenstr. 4 (T4). Im August 1941 verordnet Hitler einen Vergasungsstopp. Dennoch wird weiter gemordet: mit Medikamenten, mittels Hunger, im Einzelfall per Elektroschock. Ein weltweit einmaliges Verbrechen: Psychiater versuchen, ihre Kranken auszurotten.“
...
„Die deutsche Psychiatrie brauchte die Nazis. Zwischen 1933 und 1945 geschieht nichts, was nicht Psychiater lange vor den Nazis gefordert hatten. Emil Kraepelin 1918: 'Ein unumschränkter Herrscher, der ... rücksichtslos in die Lebensgewohnheiten der Menschen einzugreifen vermöchte, würde im Laufe weniger Jahrzehnte bestimmt eine Abnahme des Irreseins erreichen können.' Hermann Simon, Anstaltsleiter in Gütersloh, definiert 1931 den Personenkreis angeblich Minderwertiger: Körperschwache, Kränkliche, Schwächlinge, Schwachsinnige, Krüppel, Geisteskranke. Er kommt zu dem Schluß: 'Es wird wieder gestorben werden müssen.' Ernst Rüdin 1934: 'Der Psychiater muß sich mit den Gesunden gegen Erbkranke verbünden ... Dem hohen Zuchtziel einer erbgesunden, begabten, hochwertigen Rasse muß der Psychiater dienstbar sein.'... Die deutsche Psychiatrie wurde von den Nazis nicht mißbraucht, sie brauchte die Nazis.“
Am 11.3.2000 gehörte auch die damalige Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer zu den Vorreitern, als sie bei der in Pirna-Sonnenstein stattfindenden Nationalen Gedenkfeier für die Opfer der Nazi-Psychiatrie öffentlich erklärte:
„Die Forschungsarbeiten zur Psychiatrie im Nationalsozialismus haben gezeigt, dass der Medizin nationalsozialistisches Gedankengut – wie die Selektion des sog. »lebensunwerten Lebens« – nicht von außen aufgezwungen werden musste. Schon in den Jahren davor war ein geistiges Fundament entstanden ... auf dem die Vorstellungen der Nationalsozialisten aufsetzen konnte. Lange vor der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten gab es weit über die Grenzen Deutschlands hinaus einen theoretischen Diskurs der Rassenbiologie und der Erblehre, in dem Selektion als etwas Selbstverständliches betrachtet wurde. ...
Die Folgen dieser Ideologie waren grausam: 400.000 gedemütigte, sterilisierte Menschen,
180.000 in den Gaskammern getötete chronisch kranke und behinderte Menschen,
70.000 ermordete psychisch Kranke in der berüchtigten »Aktion T4«,
10.000 ermordete Kinder und Jugendliche und 90.000 durch bewusste sog. »Hungerkost«
getötete psychisch Kranke, chronisch Kranke und Behinderte.
Die Techniken des Ermordens durch Gas wurden in den psychiatrischen Einrichtungen erprobt und kamen dann in den Vernichtungslagern im Osten zum Einsatz. Im weiteren Verlauf des Krieges... ging das Morden in den psychiatrischen Anstalten und wissenschaftlichen Institutionen weiter. Es kam zur sog. wilden Euthanasie mit Todesspritzen und Experimenten an sog. »lebensunwerten Menschen«. Auch nicht einsatzfähige Zwangsarbeiter wurden in den Einrichtungen getötet.
Zu Kontinuitäten in der Nachkriegszeit sagte Fischer: „Die wenigsten der Täter in den
psychiatrischen Anstalten wurden hart bestraft oder wie Nitsche zum Tode verurteilt. Die weitaus größte Zahl konnte ihre Tätigkeit in Medizin und Psychiatrie fortsetzen."
Erst 2010 räumt der damalige Präsident der Deutschen Gesellschaft der Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde, Prof. Dr. Frank Schneider, öffentlich ein:
„Psychiater haben in der Zeit des Nationalsozialismus Menschen verachtet, die ihnen anvertrauten Patientinnen und Patienten in ihrem Vertrauen getäuscht und belogen, die Angehörigen hingehalten, Patienten zwangssterilisieren und töten lassen und auch selber getötet. An Patienten wurde nicht zu rechtfertigende Forschung betrieben, Forschung, die Patienten schädigte oder gar tötete."
Die Kontinuitäten nach dem Krieg dürften eine maßgebliche Rolle dabei gespielt haben, dass die Standesorganisationen der Psychiatrie sich erst derart spät zu den Verbrechen gegen die Menschlichkeit ihrer Vorgänger bekannt haben.
In keinem Land der Erde haben Psychiater umfangreichere Zwangsmaßnahmen, Misshandlungen und Massenmorde an ihren Patienten verübt wie in Deutschland.
Wir bitten Sie vor diesem besonderen geschichtlichen Hintergrund der Psychiatrie unseres Landes, sich Kraft Ihres Amtes kompromisslos für die Abschaffung jeglichen Zwangs in der Psychiatrie in Deutschland einzusetzen und damit den Forderungen des aktuellen WHO-Berichts nachzukommen.
Die WHO verweist auf eine Reihe von UN-Richtlinien und Resolutionen des Menschenrechtsrats, in denen die Staaten aufgefordert werden, gegen "rechtswidrige oder willkürliche Institutionalisierung, Übermedikation und Behandlungspraktiken [im Bereich der psychischen Gesundheit] vorzugehen, die Autonomie, Willen und Präferenzen nicht respektieren". Menschen, die Zwangspraktiken ausgesetzt sind, berichten laut WHO von Gefühlen der Entmenschlichung, Entmachtung und Respektlosigkeit.
Die CRPD (Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen) besagt, dass Patienten nicht der Gefahr von "Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe" ausgesetzt werden dürfen und empfiehlt, "Zwangspraktiken wie Zwangseinweisung und Zwangsbehandlung, Absonderung und Fesselung sowie die Verabreichung von Antipsychotika, Elektrokrampftherapie (EKT) und Psychochirurgie ohne informierte Zustimmung zu verbieten."
Zwangspraktiken richten Schaden an
Die Psychiatrie hat es versäumt, Verantwortung für die Tatsache zu übernehmen, dass ihre eigenen Zwangspraktiken die Ursache dafür sind, dass Medizinstudenten kein Interesse am Fach Psychiatrie haben und Patienten nichts mit der Psychiatrie zu tun haben wollen.
Die WHO sagt, dass eine Stigmatisierung in der allgemeinen Bevölkerung, bei politischen Entscheidungsträgern und anderen dann besteht, wenn sie Menschen mit geistigen Behinderungen als "gefährdet ansehen, sich selbst oder anderen zu schaden, oder dass sie eine medizinische Behandlung benötigen, um sie zu schützen" - ein Mantra der Psychiatrie -, was zu einer allgemeinen Akzeptanz von Zwangspraktiken wie unfreiwilliger Einweisung, Zwangsbehandlung oder Isolierung und anderen Zwangsmaßnahmen führt.
Die Länder müssen auch sicherstellen, dass eine "informierte Zustimmung" vorliegt und dass "das Recht, die Einweisung und Behandlung zu verweigern, ebenfalls respektiert wird".“Menschen, die von Psychopharmaka loskommen wollen, sollten auch aktiv dabei unterstützt werden, in jüngster Zeit wurden mehrere Ressourcen entwickelt, um Menschen dabei zu unterstützen", so die WHO.
Keine Rechenschaftspflicht: Keine Finanzierung
Die WHO sieht in der gemeindenahen psychischen Gesundheit die Alternative zu ungeheuerlichen Krankenhausaufenthalten und dem biomedizinischen Paradigma - Psychopharmaka, Elektroschocks und Psychochirurgie -, um die emotionalen und mentalen Probleme der Menschen zu 'behandeln'. Dies würde eine massive Menge von Fördergeldern erfordern. Es gibt jedoch keine Kontrollmechanismen, die verhindern, dass Missbrauch in der Gemeinschaft betrieben wird. Eine stärkere Rechenschaftspflicht, einschließlich strafrechtlicher Sanktionen, ist erforderlich.
Die gleichen Finanzierungsbeschränkungen gelten auch für die psychiatrische Forschung, die, wie die WHO hervorhebt, von einem biomedizinischen Modell - Neurowissenschaften, Genetik und Psychopharmakologie - dominiert wird. Sie zitiert das unverblümte Eingeständnis von Thomas Insell, dem ehemaligen Direktor des National Institute for Mental Health (2002 bis 2015), der sagte: "Wenn ich darauf zurückblicke, stelle ich fest, dass es mir zwar gelungen ist, eine Menge wirklich cooler Papiere von coolen Wissenschaftlern zu ziemlich hohen Kosten - ich glaube, 20 Milliarden US-Dollar - zu veröffentlichen, aber ich glaube nicht, dass wir die Nadel bei der Reduzierung von Selbstmorden, der Verringerung von Krankenhausaufenthalten und der Verbesserung der Genesung für die zig Millionen Menschen mit psychischen Erkrankungen bewegt haben."
Wir können nicht immer mehr Geld in ein versagendes und schädigendes psychiatrisches System stecken, wenn es entweder keine Rechenschaftspflicht gibt oder diese derart ineffektiv ist, dass die Täter mit Mord davonkommen können.
Abschaffung der unfreiwilligen Hospitalisierung
Die WHO spricht sich gegen die Vorstellung aus, dass eine nicht freiwillige Einweisung aus so genannten Gründen wie "Gefährlichkeit" oder "mangelnde Einsicht" notwendig ist.
Oder dass die Person "'in Gefahr ist, sich selbst oder anderen zu schaden, oder dass sie eine medizinische Behandlung braucht, um sicher zu sein'", wobei die WHO sagt, dass solche Praktiken zu einer "Überbetonung biomedizinischer Behandlungsmöglichkeiten und einer allgemeinen Akzeptanz von Zwangspraktiken wie nicht freiwilliger Einweisung und Behandlung oder Isolierung und Zwangsmaßnahmen" führen.
"Obwohl es eine Herausforderung ist, ist es wichtig, dass die Staaten ... Praktiken abschaffen, die das Recht auf Rechtsfähigkeit einschränken, wie z. B. nicht freiwillige Einweisung und Behandlung", heißt es.
Der verstorbene Dr. Thomas Szasz, Professor für Psychiatrie, Fellow der American Psychiatric Association und Mitbegründer der Citizens Commission on Human Rights (CCHR), betonte diesen Punkt bereits vor sechzig Jahren. In der Tat war er noch direkter, als er feststellte: "Unfreiwillige psychische Hospitalisierung ist wie Sklaverei. Die Standards für die Einweisung zu verfeinern, ist wie die Sklavenplantagen zu verschönern. Das Problem ist nicht, wie man die Einweisung verbessert, sondern wie man sie abschafft." Und weiter: "Der wichtigste Entzug von Menschen- und Verfassungsrechten, der Personen zugefügt wird, die als psychisch krank gelten, ist die unfreiwillige Einweisung in eine psychiatrische Klinik."
Bisherige Bemühungen für eine Psychiatrie ohne Zwang
in Deutschland und Europa
Der deutsche Psychiater Dr. Martin Zinkler, seit Juni 2021 Chefarzt in der Psychiatrie Bremen-Ost, fordert seit Jahren öffentlich eine Psychiatrie ohne Zwang und praktizierte diese selbst in seiner Klinik in Heidenheim erfolgreich. Am 27. April 2017 erläuterte er seine Erfahrungen als Sachverständiger in der öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses im Deutschen Bundestag zum Thema "Medizinische Zwangsbehandlungen". Auch im Beitrag "Ohne Zwang - ein Konzept für eine ausschließlich unterstützende Psychiatrie" in Recht & Psychiatrie 4/2019 beschrieb Dr. Zinkler sein Konzept, die Umsetzung und Resultate im Detail.
Am 6. Juni 2017 forderte der unabhängige UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Gesundheit, Dainius Puras, weltweit einen Paradigmenwechsel im psychiatrischen System. Er hält die UN-Mitgliedsstaaten und Psychiater dazu an, mit Mut und Entschlossenheit ein krisengebeuteltes System zu reformieren, das auf veralteten Grundfesten steht. „Wir brauchen nichts weniger als eine Revolution im Bereich der geistigen Gesundheit, um Jahrzehnte voller Versäumnisse, Missbrauch und Gewalt zu beenden“, sagte Herr Puras, nachdem er dem UN-Menschenrechtsrat in Genf seinen Bericht präsentierte:
„In den Ländern, in denen psychiatrische Systeme existieren, sind sie vom restlichen Gesundheitssystem abgetrennt und basieren auf veralteten Praktiken, welche die Menschenrechte verletzen. Ich rufe die Staaten dazu auf, sich von herkömmlichen Praktiken und Denken zu lösen und einen längst überfälligen Grundsatzwechsel mit Blick auf die Menschenrechte zu ermöglichen. Der Status quo ist schlicht unakzeptabel.“
…
„Das psychiatrische System mit seinen Richtlinien und Diensten befindet sich in einer Krise – keine Krise des chemischen Ungleichgewichts, sondern ein Ungleichgewicht der Kräfte. Wir brauchen mutiges politisches Engagement, dringende Richtlinien und sofortige Abhilfen.“
Quelle: https://www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=21689&LangID=E
Am 26. Juni 2019 tagte die Parlamentarischen Versammlung des Europarates in Straßburg zum Thema: "Ende des Zwangs in der Psychiatrie: die Notwendigkeit eines menschenrechtsbasierten Ansatzes".
Die Menschenrechtskommissarin des Europarates, Dunja Mijatović, gab in ihrer Rede unter dem Titel: "Es ist an der Zeit, den Zwang in der Psychiatrie zu beenden" hierzu folgende Erklärung ab: (unautorisierte Übersetzung aus dem Englischen, fett hinzugefügt)
"Was Zwang in der psychischen Gesundheit letztlich tut, ist, diejenigen zum Schweigen zu bringen und zu isolieren, die bereits an psychischen Erkrankungen leiden. Entscheidend ist, dass es unsere Fähigkeit verringert, zuzuhören und auf ihre Bedürfnisse zu reagieren.
Historisch gesehen waren Ablehnung und Isolation unsere Standardreaktion auf Menschen mit psychosozialen Behinderungen. Diese tief verwurzelte Angst ist in uns immer noch sehr stark und schürt das Vorurteil, dass sie automatisch eine Gefahr für sich selbst und für die Gesellschaft sind, entgegen aller verfügbaren gegenteiligen statistischen Beweise.
Die Berichterstatterin weist darauf hin, dass es nicht genügend wissenschaftliche Beweise gibt, um den Nutzen von Zwang bei der Verringerung des Schadens zu belegen, während es zahlreiche Beweise für den – und manchmal irreparablen – Schaden gibt, den unfreiwillige Unterbringung und Behandlung bei den Patienten verursachen können.
Es gibt auch Hinweise darauf, dass der Rückgriff auf Zwang oft mehr mit Gewohnheit, einer Kultur des Wegsperrens und dem Fehlen von Alternativen als mit therapeutischer Notwendigkeit zu tun hat. ...
Die Berichterstatterin selbst verweist auf die negativen Auswirkungen unfreiwilliger Maßnahmen auch auf die Dienstleistungserbringer.
Es gibt Dienstleister für Menschen mit Behinderungen, die die Zwangsausübung stoppen wollen, aber keine Alternativen haben oder nicht kennen.
Ich stimme mit der Berichterstatterin und dem Ausschuss für soziale Angelegenheiten, Gesundheit und nachhaltige Entwicklung darin überein, dass ein System der psychischen Gesundheit, das einen menschenrechtsbasierten Ansatz vollständig integriert, der beste Weg ist, Menschenrechtsverletzungen in Zukunft zu vermeiden. (...)
Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD) ist eine der größten Errungenschaften der letzten Jahre in Bezug auf die Menschenrechte. Es war das Ergebnis einer unermüdlichen Kampagne von Menschen mit Behinderungen, einschließlich psychosozialer Behinderungen, um sich Gehör zu verschaffen. Was sie sagen, ist vollkommen rational und auf Menschenrechten beruhend: Sie sagen, dass sie gleich behandelt werden wollen und nicht aufgrund ihrer Behinderung diskriminiert werden wollen. (...)
Es ist unsere Pflicht, unsere Mitgliedstaaten zu ermutigen und zu unterstützen, einen menschenrechtsbasierten Übergang ihrer Systeme der psychischen Gesundheit einzuleiten, um den Zwang zu verringern und zu beenden, was längst überfällig ist. Wir müssen heute beginnen, wir müssen jetzt beginnen."
Quelle: Rede von Dunja Mijatović, Menschenrechtskommissarin,
vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarates am 26.06.2019:
https://www.coe.int/en/web/commissioner/-/it-is-time-to-end-coercion-in-mental-health
Am 14. Februar 2020 veröffentlichte der UN-Sonderberichterstatter über Folter, Prof. Nils Melzer, einen neuen Bericht, in dem er in mehreren Punkten auf folterartige Zustände in der Psychiatrie einging.
Nils Melzer ist schweizer Rechtswissenschaftler und Professor für internationales Recht an der Universität von Glasgow. Seit 2016 ist Prof. Melzer UN-Sonderbericherstatter über Folter. In seinem jüngsten Bericht listet er eine Menge beklagenswerter Punkte auf, hier seien nur vier daraus genannt (aus dem Englischen übersetzt, fett hinzugefügt):
33. Frühere Sonderberichterstatter haben erklärt, dass „die Beurteilung des Ausmaßes an Leiden oder Schmerzen, die relativ zu den Umständen des Falles sind, erfordert dass die Umstände des Falles berücksichtigt werden, einschließlich (…) des Erwerbs oder der Verschlechterung der Beeinträchtigung als Ergebnis der Behandlung oder der Haftbedingungen des Opfers“, und dass „medizinische Behandlungen aufdringlicher und irreversibler Art“, wenn sie keinen therapeutischen Zweck haben und ohne freie und informierte Zustimmung durchgeführt oder verabreicht werden, Folter oder Misshandlung darstellen können.
37. Es muss betont werden, dass angeblich wohlwollende Zwecke an sich keine Zwangs- oder Diskriminierungsmaßnahmen rechtfertigen können. Zum Beispiel Praktiken wie unfreiwillige Abtreibung, Sterilisation oder psychiatrische Interventionen, die auf der „medizinischen Notwendigkeit“ des „besten Interesses“ des Patienten beruhen.
40. In der Praxis entsteht „Machtlosigkeit“ immer dann, wenn jemand unter die direkte physische oder gleichwertige Kontrolle des Täters geraten ist und effektiv die Fähigkeit verloren hat, sich dem zugefügten Schmerz oder Leiden zu widersetzen oder sich ihm zu entziehen. Dies ist typischerweise in Situationen der physischen Haft, wie z.B. bei Festnahme und Inhaftierung, Einweisung in ein Heim, Krankenhausaufenthalt oder Internierung oder jeder anderen Form des Freiheitsentzuges der Fall. In Abwesenheit von physischer Haft kann Machtlosigkeit auch durch den Einsatz von am Körper getragenen Geräten entstehen, die in der Lage sind, per Fernsteuerung elektrische Schläge abzugeben, da sie die „vollständige Unterwerfung des Opfers unabhängig von der physischen Entfernung“ bewirken. Eine Situation tatsächlicher Ohnmacht kann ferner durch „Entzug der Rechtsfähigkeit, wenn einer Person die Ausübung der Entscheidungsfindung entzogen und Anderen übertragen wird“, durch ernsthafte und unmittelbare Bedrohungen oder durch Zwangskontrolle in Kontexten wie häuslicher Gewalt erreicht werden, durch entmündigende Medikamente und, je nach den Umständen, in kollektiven sozialen Kontexten des Mobbings, des Cyber-Mobbings und der staatlich geförderten Verfolgung, die den Opfern jede Möglichkeit nehmen, sich wirksam gegen ihren Missbrauch zu wehren oder ihm zu entgehen.
49. Eine psychologische Methode, die in praktisch allen Foltersituationen angewandt wird, besteht darin, den Opfern gezielt die Kontrolle über möglichst viele Aspekte ihres Lebens zu entziehen, die völlige Dominanz über sie zu demonstrieren und ein tiefes Gefühl der Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit und völligen Abhängigkeit vom Folterer zu vermitteln. In der Praxis wird dies durch ein breites Spektrum von Techniken erreicht, darunter vor allem … (d) unmögliche Entscheidungen auferlegen, die die Opfer zur Teilnahme an ihrer eigenen Folter zwingen. (Nötigung zur "Krankheitseinsicht" und "Behandlungsbedürftigkeit" usw.)
Eine lange Reihe weiterer Punkte aus dem Bericht finden Sie in deutscher Übersetzung unter https://www.zwangspsychiatrie.de/un-sonderberichterstatter/ .
Quelle des englischen Originals:
Human Rights Council, Forty-third session 24 February – 20 March 2020,
Torture and other cruel, inhuman or degrading treatment of punishment:
https://ohchr.org/EN/HRBodies/HRC/RegularSessions/Session43/Documents/A_HRC_43_49_AUV.docx
Derartige, mit Folter gleichzusetzende Missbräuche sind im Alltag geschlossener psychiatrischer Stationen, in die Menschen zwangeingewiesen und damit einhergehend oft unter rechtliche Betreuung gestellt (entmündigt) werden, noch heute an der Tagesordnung.
Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen hat nach seiner 43. Tagung in einer aktuellen Resolution die Wichtigkeit seiner früheren Resolutionen zum Schutz der Menschenrechte in der Psychiatrie betont und drängt die Staaten auf Umsetzung der erarbeiteten Strategie um Zwang, Gewalt, Übermedikation, Missbräuche, Freiheitsberaubung und willkürliche Einweisungen etc. ein Ende zu setzen. Die Resolution wurde am 19. Juni 2020 verabschiedet und ist hier veröffentlicht:
https://undocs.org/A/HRC/RES/43/13
Unter Punkt 6. fordert der Menschenrechtsrat die Staaten nachdrücklich auf, aktive Schritte zu unternehmen um alle Formen der Gewalt, Missbrauch, rechtswidrige oder willkürliche Freiheitsberaubung und Einweisung sowie Übermedikamentierung zu beseitigen.
Unter Punkt 7. wiederholt der UN Ausschuss die Forderung an die Staaten einen Paradigmenwechsel im Bereich der psychischen Gesundheit zu fördern, gegenüber einem Modell, das auf der Dominanz biomedizinischer Interventionen, Zwang, Medikalisierung und Hospitalisierung beruht.
Unter Punkt 8. werden die Staaten aufgefordert, alle Praktiken und Behandlungen aufzugeben, bei denen die Rechte, die Autonomie, der Wille und die Präferenzen aller Personen nicht gleichberechtigt mit anderen respektiert werden und die zu Machtungleichgewichten, Stigmatisierung, Diskriminierung, Schaden und Menschenrechtsverletzungen und -missbrauch in psychiatrischen Einrichtungen führen.
Punkt 9. fordert die Sicherstellung, dass Menschen mit psychischen Gesundheitszuständen oder psychosozialen Behinderungen, einschließlich der Nutzer psychosozialer Dienste, gleichberechtigt mit anderen Zugang zur Justiz haben, unter anderem durch die Bereitstellung von verfahrenstechnischen und altersgerechten Unterkünften.
Punkt 14. ermutigt die Staaten nachdrücklich, Menschen mit psychischen Gesundheitszuständen oder psychosozialen Behinderungen dabei zu unterstützen, sich selbst zu befähigen, ihre Rechte zu kennen und einzufordern, unter anderem durch Förderung der Gesundheits- und Menschenrechtskompetenz, Menschenrechtserziehung und -ausbildung für Gesundheits- und Sozialarbeiter, Polizei, Vollzugsbeamte, Gefängnispersonal und andere einschlägige Berufe unter besonderer Berücksichtigung der Nichtdiskriminierung, der freien und informierten Zustimmung und der Achtung des Willens und der Präferenzen aller, der Vertraulichkeit und der Privatsphäre sowie des Austauschs bewährter Praktiken in dieser Hinsicht.
Quelle: UN Resolution A/HRC/43/13 vom 19. Juni 2020
https://undocs.org/A/HRC/RES/43/13
Bitte setzen Sie sich vor dem Hintergrund der diversen Forderungen von Gremien der Vereinten Nationen und des Europarats – nun auch von der Weltgesundheitsorganisation – für die endgültige Abschaffung von Zwang in der Psychiatrie in Deutschland ein.
Für weitere Informationen stehe ich Ihnen gern zur Verfügung.
Mit freundlichen Grüßen
Bernd Trepping
Bundesvorstand
Kommission für Verstöße der Psychiatrie
gegen Menschenrechte Deutschland e.V.
P.S.:
Anbei finden Sie ein kostenfreies Exemplar der DVD-Dokumentation "Klima der Angst – Ein Blick in die Psychiatrie". Anhand von Interviews mit über 80 Betroffenen und Experten aus dem Gesundheitswesen in Deutschland und Österreich, darunter Psychiatriebetroffene, Professoren, Rechtsanwälte, Ärzte, Psychiater, Lehrer, Sozialarbeiter, ein Kriminalhauptkommissar und Anti-Korruptions-Experte, eine Aussteigerin aus der Pharmaindustrie und mehrere Mütter, deren Kindern in der Drehtürpsychiatrie schwerer Schaden zugefügt wurde, entstand diese einzigartige Dokumentation über die Praktiken der deutschen Psychiatrie DAMALS und HEUTE.
Anlage 1 – Zitate von Experten im Film
Anlage 2 – Einige Fakten zur Psychiatrie
Anlage 3 – Psychiater als Krankheitserfinder