UN-Ausschuss fordert Regierungen auf, alle Regularien abzuschaffen, die Zwangsbehandlung sowie eine Einwilligung durch Dritte erlaubt, da dies Folter ist. Betreuungsrechtsreform verstößt gegen Forderung des UN-Fachausschusses

 

24. September 2020

Sehr geehrte ...,

 

am 23. Juni 2020 hat das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz hat einen Entwurf für ein Gesetz zur Reform des Vormundschafts- und Betreuungsrechts veröffentlicht. Dabei handelt es sich um ein 492 Seiten starkes Gesetzespaket, dass laut Pressemitteilung des BMJV einschließlich aller Folgeanpassungen eine Änderung von 46 Gesetzen vorsieht.

Das Problem:
In Deutschland werden immer mehr Menschen unter rechtlich Betreuung gestellt. Nach Angaben des Verbandes der Berufsbetreuer hat sich ihre Zahl innerhalb von 25 Jahren fast verdoppelt, auf heute 1,3 Millionen. Die Betreuung regen oft Außenstehende an: Mitarbeiterinnen von Altenheimen, Pflegediensten, Hausärzte oder Nachbarinnen. Aber auch Familienangehörige. Man kann auch für sich selbst eine Betreuung beantragen, also einen Antrag beim Betreuungsgericht stellen. Der Betreuungsrichter holt dann ein Gutachten ein und entscheidet aufgrund dessen, ob und in welchem Umfang ein Mensch unter rechtliche Betreuung gestellt wird. Menschen können in verschiedenen Bereichen unter Betreuung gestellt werden, darunter das Aufenthaltsbestimmungsrecht, gesundheitliche Fürsorge, Wohnungsangelegenheiten, Vermögenssorge, Postangelegenheiten sowie die Vertretung gegenüber Behörden und Ämtern. „Die Aufgabe eines Betreuungsrichters besteht darin, dass er darüber entscheidet, ob ein Mensch, der hilfsbedürftig ist unter rechtliche Betreuung gestellt wird.“ Thomas Gebhard ist Betreuungsrichter beim Amtsgericht Dresden. Als hilfsbedürftig gilt, so der Jurist, wer aufgrund einer psychischen Erkrankung, einer geistigen, seelischen oder körperlichen Behinderung seine Angelegenheiten nicht mehr regeln kann. „Das ist eine medizinische Frage und die klärt man in einem Betreuungsverfahren durch ein Gutachten, das wir als Richter einholen“, so Thomas Gebhard weiter.
Quelle: 17.8.2020, Deutschlandfunk
https://www.deutschlandfunkkultur.de/reform-des-betreuungsrechts-das-ringen-um-mehr.976.de.html?dram:article_id=482488

Damit sind wir beim Kernstück des Problems. In der Praxis werden Betreuungs-Gutachten oft von Psychiatern erstellt. Dem Betroffenen werden im Gutachten verschiedene psychische Krankheiten angehängt und er wird deswegen unter Betreuung gestellt. Dabei werden sie kaum kontrolliert. Die Richter hinterfragen die Methoden der Psychiater in den wenigsten Fällen, sie vertrauen den selbsternannten „Experten“. Dabei ist das Diagnosebuch der Psychiatrie (DSM-V bzw. ICD-10) seit Jahren stark in die Kritik geraten, auch unter Psychiatern selbst (z.B. Allen Frances). Psychiatrische Diagnosen entbehren einer wissenschaftlicher Grundlage. Uns sind Fälle bekannt, in denen der Betroffene zwangs-begutachtet wurde und die Diagnose in wenigen Minuten feststand. Die Betreuungs-Gutachten stellen aber in der Folge den Fahrplan für das weitere Vorgehen da, welches von den BetreuerInnen umgesetzt wird. Es gibt hierzulande zirka 17.000 Berufsbetreuer, die aus den Kassen der Bundesländer oder aus dem Vermögen der Betreuten bezahlt werden. Der Gesetzgeber gibt Angehörigen, Freunden und ehrenamtlichen Betreuerinnen den Vorrang vor Berufsbetreuern. Schätzungsweise sind 700.000 Menschen als Ehrenamtliche bestellt.

Die Rechtliche Betreuung greift tief in die Selbstbestimmung des Betroffenen ein:
Betroffene wenden sich an unseren Verein, z.B. nachdem sich ihr gesetzlicher Betreuer – gegen den Willen des Betroffenen - eine Elektroschock-Behandlung durchgesetzt hat, eine Zwangsbehandlung mit Psychopharmaka mit schweren Nebenwirkungen oder eine Fixierung, die manchmal tage- oder sogar wochenlang dauern kann. Derartige Übergriffe stellen einen schweren Eingriff in die körperliche Unversehrtheit des Patienten ein.    

Unsere Forderung:
Die vollständige Umsetzung der Empfehlungen der Vereinten Nationen, die sie 2018 in einem Bericht über „Geistige Gesundheit und Menschenrechte“ formuliert haben.
„Die Staaten sollten sicherstellen, dass jegliche Dienstleistungen für die Gesundheit, einschließlich sämtlicher Dienste für die psychische Gesundheit, auf dem freien und informierten Einverständnis des Betroffenen beruhen. Zudem sind rechtliche Bestimmungen und Regelwerke abzuschaffen, welche den Einsatz von Zwang und Fixierung, Psychochirurgie, Zwangsmedikation und andere Zwangsmaßnahmen erlauben, die darauf abzielen, etwas zu korrigieren oder eine tatsächliche oder wahrgenommene Beeinträchtigung zu berichtigen, einschließlich solcher, die eine Autorisierung oder eine Einverständniserklärung einer Dritten Partei erlauben. Die Staaten sollten erkennen, dass diese es sich bei diesen Praktiken um Folter oder andere grausame, unmenschliche oder degradierende Behandlung oder Bestraftung handelt.“ 
Quelle: Jahresbericht des UN-Hochkommissars für Menschenrechte sowie Berichte des Hochkommissariats und des Generalsekretärs, UN-Menschenrechtsrat, 10. - 28. Sept. 2018, S. 14, Punkt 46 (siehe Anlage)
 
Weitere Begründung:
Wir stellen Ihnen hier einige weitere Informationen Dritter zur Verfügung, die ebenfalls fundierte Kritik am gegenwärtigen Referentenentwurf für die Überarbeitung des Betreuungsrechts aufdecken und Abhilfe fordern. Damit möchten wir Ihnen Eckpfeiler zur Verwendung an die Hand geben, um bei der Überarbeitung des gegenwärtigen Entwurfs sicherzustellen, dass obige UN-Forderungen hierzulande vollständig umgesetzt werden.

Im August 2020 hat die Monitoring-Stelle "UN-Behindertenrechtskonvention" des Deutschen Instituts für Menschenrechte in ihrer 10-seitigen Stellungnahme fundamentale Mängel im Gesetzentwurf aufgedeckt, der so keinesfalls verabschiedet werden darf. Zu den Aufgaben des Instituts gehören Politikberatung, Menschenrechtsbildung, Information und Dokumentation, anwendungsorientierte Forschung zu menschenrechtlichen Themen sowie die Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen. Es wird vom Deutschen Bundestag finanziert. Die Monitoring-Stelle ist laut UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) eine verpflichtende, unabhängige Einrichtung, die mit dem Monitoring der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention beauftragt ist.

Auszüge aus ihrer Stellungnahme:

3. Selbstbestimmte Entscheidung über Unterstützung

Nach der UN-BRK muss die Person mit Unterstützungsbedarf das uneingeschränkte Recht haben, über ihre Unterstützung in rechtlichen Angelegenheiten zu entscheiden. Dazu gehören die Entscheidungen über die Art und Intensität der Unterstützung sowie über die Person(en), die Unterstützung leisten, und dazu gehört auch die Ablehnung von Unterstützung.

3.1 Keine Betreuung gegen den Willen

In der UN-Behindertenrechtskonvention ist verankert, dass die betroffene Person das Recht hat, Unterstützung abzulehnen und das Unterstützungsverhältnis jederzeit zu beenden oder zu ändern. § 1814 Absatz 2 BGB-E wird diesen menschenrechtlichen Vorgaben nicht gerecht. Nach § 1814 Absatz 2 BGB-E (Voraussetzungen der Betreuerbestellung) darf, wie bisher, gegen den freien Willen der_s Volljährigen ein_e Betreuer_in nicht bestellt werden. Die Rechtsprechung grenzt den freien Willen und den natürlichen Willen voneinander ab. Während der freie Wille stets zu achten ist, kann ein_e Betreuer_in gegen den natürlichen Willen bestellt werden, wenn die betroffene Person nach Auffassung des Gerichts nicht einsichtsfähig beziehungsweise unfähig ist, nach dieser Einsicht zu handeln.

Im Gegensatz dazu stehen die Vorgaben aus der UN-BRK. Der Wortlaut von Artikel 12 UN-BRK lässt keine Differenzierung zu, der zufolge eine Einschränkung aufgrund der Form oder des Grads der Beeinträchtigung oder wegen einer krankheitsbedingten Nichteinsichtsfähigkeit zulässig wäre. Der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen weist in seiner ersten Allgemeinen Bemerkung zu Artikel 12 nachdrücklich darauf hin, dass das Konzept der rechtlichen Handlungsfähigkeit nicht mit geistiger Fähigkeit verschmolzen werden darf. Wie der Ausschuss deutlich aufzeigt, ist das Konzept der geistigen Fähigkeit kein objektives, wissenschaftliches und naturgegebenes Phänomen, sondern hängt vom sozialen und politischen Kontext ab; ebenso wie die Disziplinen, Berufsgruppen und Methoden, die bei der Beurteilung geistiger Fähigkeit eine beherrschende Rolle spielen. Wahrgenommene oder tatsächliche Defizite in der geistigen Fähigkeit sind keine Rechtfertigung für die Versagung der rechtlichen Handlungsfähigkeit. Nach der UN-BRK ist es deshalb unzulässig, wenn rechtlich die Befugnis, eine eigene Entscheidung - etwa darüber, ob ein_e Betreuer_in bestellt werden soll - zu treffen, entzogen wird, weil eine bestimmte Form der Beeinträchtigung diagnostiziert wird (Status-Ansatz) oder weil eine Person eine Entscheidung mit vermeintlich negativen Auswirkungen trifft (Ergebnis-Ansatz) oder weil die Fähigkeit einer Person, Entscheidungen zu treffen, als mangelhaft betrachtet wird (funktionaler Ansatz). Auch der von Fachleuten oft als ‚behinderungsneutral‘ angesehene funktionale Ansatz, wie er etwa der Abgrenzung zwischen dem freien und dem natürlichen Willen zugrunde liegt, ist also keine zulässige Rechtfertigung für eine Betreuer_innenbestellung gegen den (natürlichen) Willen der betreffenden Person. Wie der UN-Fachausschuss darlegt, ist dieser Ansatz „aus zweierlei Gründen mangelhaft: a) weil er in diskriminierender Weise auf Menschen mit Behinderungen angewandt wird, und b) weil er vorgibt, die inneren Abläufe des menschlichen Geistes genau beurteilen zu können und ein zentrales Menschenrecht - das Recht auf gleiche Anerkennung vor dem Recht - versagt, wenn jemand den Begutachtungstest nicht besteht."

Die Monitoring-Stelle empfiehlt, die Möglichkeit zur Bestellung einer_s Betreuer_in gegen den Willen ganz abzuschaffen und zu diesem Zweck in § 1814 Absatz 2 BGB-E wie folgt neu zu fassen: „Gegen den natürlichen Willen des Volljährigen darf ein Betreuer nicht bestellt werden."

3.3 Auswahl der unterstützenden Person

Zu begrüßen ist, dass dem Wunsch der Person mit Unterstützungsbedarf im Hinblick auf die Person der_des Betreuer_in gemäß § 1816 Absatz 2 BGB-E nunmehr zu entsprechen ist.

3.3.1 Eignung der_des Betreuer_in

Allerdings wird das Wunsch- und Wahlrecht insofern eingeschränkt als es sich gemäß § 1816 Absatz 1 BGB-E um eine_n Betreuer_in handeln muss, die oder der „geeignet" ist. Die „Geeignetheit" ist als unbestimmter Rechtsbegriff vom jeweiligen Betreuungsgericht zu beurteilen. Damit ist ein weiter Beurteilungsspielraum eröffnet, der dazu führen kann, dass Wille und Präferenzen der Person mit Unterstützungsbedarf nicht zum Tragen kommen. Selbstvertretungsorganisationen äußern die Sorge, dass für Personen in komplexen Lebenslagen beziehungsweise bestimmten Fallgruppen von vornherein nur Berufsbetreuer_innen in Betracht gezogen werden könnten. Außerdem könnte in der Öffentlichkeit der Eindruck entstehen, dass die Übernahme einer Betreuung eine besondere Qualifikation erfordert, was mögliche ehrenamtliche Betreuer_innen vor der Übernahme einer Betreuung abschrecken und hierdurch den Vorrang des Ehrenamts faktisch aushöhlen könnte. Es sollte daher dafür Sorge getragen werden, dass in der Anwendungspraxis Eignung nicht mit formaler Qualifikation gleichgesetzt wird. Zwar ist eine stete Verbesserung der Qualität der rechtlichen Betreuung aus Sicht der UN-BRK sehr zu begrüßen. Ergebnis darf jedoch nicht sein, dass lediglich ein weiteres Berufsfeld im Bereich der Leistungserbringer_innen für Menschen mit Behinderungen entsteht; vielmehr ist sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen die Form von Unterstützung erhalten, die sie wünschen, um ihre rechtliche Handlungsfähigkeit ausüben zu können. Auch und insbesondere darf die Einführung von Qualifikationen für Berufsbetreuer_innen nicht dazu führen, dass im konkreten Fall nur ein_e im Sinne des Gesetzes qualifizierte_r Betreuer_in als geeignet angesehen wird.

Die Monitoring-Stelle empfiehlt, die Auslegung der „Geeignetheit" durch die Rechtsprechung im Hinblick auf die Umsetzung von Willen und Präferenzen in die Evaluation des Gesetzes mit einzubeziehen.

5. Zwangsmaßnahmen

In Kenntnis, dass Zwangsmaßnahmen und Sterilisation aus dem hiesigen Reformprozess ausgegliedert waren, ist dennoch nachdrücklich darauf hinzuweisen, dass diese Regelungen nicht im Einklang mit der UN-BRK stehen.

 

Wir fordern die vollständige Umsetzung der UN-Empfehlungen aus 2018, d.h. Die Abschaffung der Regelungen zu freiheitsentziehenden Maßnahmen, zur Zwangsbehandlung und Sterilisation.

 

Experte für Betreuungsrecht warnt vor Referentenentwurf:

Prof. Dr. Werner Bienwald ist ein deutscher Hochschullehrer, Jurist und juristischer Fachbuchautor. Er war langjähriger Professor an der Evangelischen Fachhochschule Hannover und zeitweise deren Rektor. In Juristenkreisen ist Bienwald als Verfasser eines Standardkommentars zum Betreuungsrecht bekannt. Darüber hinaus gehört er zu den Mitherausgebern der juristischen Fachzeitschrift FamRZ. In seiner Stellungnahme vom 29.06.2020 an das BMJV kritisiert Prof. Bienwald am Referentenentwurf u.a.:

„Indem der Aufgabenkreis global und über das erforderliche Maß hinaus (sowohl von der Behörde als auch dem Sachverständigen und schließlich dem Gericht) bestimmt wird, wird der Eindruck erweckt, als sei für dieses Maß an rechtlicher Betreuung eine besondere Qualifikation erforderlich. Dabei würde für Inhalt und Maß dieser Betreuung, um es in Anlehnung an eine frühe Entscheidung des BayObLG zu sagen, jedermann geeignet sein. Beschränkt sich die Betreuung jedoch nicht ausdrücklich auf die erforderlichen zu besorgenden Angelegenheiten, erhält der Betreuer eine darüber hinausgehende (im Außenverhältnis verbindliche) Rechtsmacht, die die Grundrechte der betreuten Person rechtswidrig beschränkt und u.a. gegen die UN-BRK verstößt.“

Thomas Künneke, Mitarbeiter der Interessenvertretung „Selbstbestimmt Leben e.V.“.
„Die unterstützende Entscheidungsfindung im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention hat den Anspruch, dass der Mensch, der in seiner Entscheidung unterstützt wird, immer noch die Autonomie hat, dann letztendlich selbst zu entscheiden.“

 

Als Menschenrechtsverein haben wir es seit Jahrzehnten regelmäßig mit Betroffenen zu tun, die nicht nur zwangseingewiesen sondern gleichzeitig auch gegen ihren Willen unter rechtliche Betreuung gestellt und damit faktisch komplett entmündigt wurden.
Die in diesem Schreiben hervorgehobenen Ausführungen sind von entscheidender Bedeutung für einen gerechten, humanen und menschenwürdigen Umgang mit Betroffenen. Sie sind eine nötige Voraussetzung für den Schutz vor Übergriffen durch Psychiater und psychiatrisches Personal.

Wir fordern die Überarbeitung des Referentenentwurfs, damit dieser den Anforderungen gemäß der UN-Empfehlungen aus 2018 sowie der UN-Behindertenkonvention vollständig entspricht.

Mit freundlichen Grüßen

Bernd Trepping

Kommission für Verstöße der Psychiatrie
gegen Menschenrechte Deutschland e.V.
Beichstraße 12
Seiteneingang rechts
80802 München

Tel.: 089 - 273 03 54
info@kvpm.dewww.kvpm.de

Vereinssitz München, VR 8166 Amtsgericht MünchenDie deutsche Kommission wurde 1972 von Mitgliedernder Scientology Kirche in München gegründet

 

Anhang: 2018-07-24  UN HRC 39 36 - Human Rights and Mental Health.pdf, siehe  page 6 point 14, page 14 point 46