Bundesgerichtshof stärkt Patientenautonomie: 2 neue Urteile bestärken Recht auf "Freiheit zur Krankheit"

Parlamentarischen Versammlung des Europarates in Straßburg fordert: "Ende des Zwangs in der Psychiatrie: die Notwendigkeit eines menschenrechtsbasierten Ansatzes"


30. April 2020


Sehr geehrte ...

 

am 15. Januar 2020 fielen zwei höchstrichterliche Entscheidungen gegen psychiatrische Willkür und Zwang:

1) Das Bundesverfassungsgericht rügte die Einstellung von Ermittlungsverfahren gegen drei Beschuldigte zu einer rechtswidrigen Fixierung als Verletzung des Rechts auf effektive Strafverfolgung. Die Staatsanwaltschaft muss die Ermittlungen gegen einen Amtsarzt (Psychiater), einen Stationsarzt und einen Pfleger wieder aufnehmen.

Quelle:  BVerfG Pressemitteilung zum Beschluss vom 15.01.2020 - 2 BvR 1763/16:
https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2020/bvg20-005.html 

2) Der Bundesgerichtshof stellte klar, dass die Zwangsbehandlung von Schizophrenie mittels Elektrokrampftherapie (EKT) im Regelfall nicht genehmigungsfähig ist und gab damit der Beschwerde eines Betroffenen Recht, dem die Schockmethode entgegen den erklärten Willen aufgezwungen werden sollte.

Quelle:  BGH Pressemitteilung zum Beschluss vom 15. Januar 2020 - XII ZB 381/19:
http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&Datum=Aktuell&nr=103739&linked=pm&Blank=1 

Hinter diesen Gerichtsurteilen stehen die Schicksale zweier Menschen, die es trotz ihrer Not geistig, organisatorisch wie auch wirtschaftlich geschafft haben, sich auf dem Klageweg Recht gegen ihre behandelnden Psychiater zu erkämpfen. Die meisten Opfer der Psychiatrie schaffen es nicht, die dafür nötigte Energie, Zeit, Geld und Beharrlichkeit aufzubringen, um einen u.U. langwierigen Rechtsstreit bis zum erfolgreichen Abschluss zu führen. Als besonders Hilfsbedürftige unserer Gesellschaft sollten sich Psychiatrie-betroffene in einem demokratischen Land wie Deutschland, gar nicht erst in einem so umfangreichen Rechtsstreit durchsetzen müssen.

Wir fordern die Abschaffung von Zwang und Gewalt in der Psychiatrie, so wie auch von der Menschenrechtskommissarin des Europarates 2019 gefordert.

BEGRÜNDUNG

Es gab kürzlich mehrere wegweisende Entwicklungen gegen die Zwangspsychiatrie.

A) Am 5. Juli 2019 hat der Bundesgerichtshof in seinen Urteilen in gemeinsamer Hauptverhandlung zu einem vollkommen Psychiatrie-fernen Thema Begründungen formuliert, die das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit genau beschreiben (5 StR 132/18 und 5 StR 393/18). Auszug BGH Begründung, Rand-Nr. 29 u. 30, (S. 14 u. 15, fett hinzugefügt):

"(1) Nach dem Grundgesetz ist jeder Mensch grundsätzlich frei, über den Umgang mit seiner Gesundheit nach eigenem Gutdünken zu entscheiden. ...
Die Rechtsprechung leitet aus dem Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (...) und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (...) eine „Freiheit zur Krankheit“ ab, die es grundsätzlich einschließt, Heilbehandlungen auch dann abzulehnen, wenn sie medizinisch angezeigt sind. ...
Selbst bei lebenswichtigen ärztlichen Maßnahmen schützt das Selbstbestimmungsrecht des Patienten eine Entschließung, die aus medizinischen Gründen unvertretbar erscheint. ...
Das Grundgesetz garantiert dem Individuum das Recht, in Bezug auf die eigene Person aus medizinischer Sicht Unvernünftiges zu tun und sachlich Gebotenes zu unterlassen. ...

(2) Darüber hinausgehend gebietet es die Würde des Menschen, sein in einwilligungsfähigem Zustand ausgeübtes Selbstbestimmungsrecht auch dann noch zu respektieren, wenn er zu eigenverantwortlichem Entscheiden nicht mehr in der Lage ist. ..."

Quellen:
Pressemitteilung Nr. 90/2019 des BGH vom 3. Juli 2019:
https://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&sid=c0ab674934465891b879f83561c55991&anz=3&pos=0&nr=97160&linked=pm&Blank=1
Urteil Az. 5 StR 393/18 des BGH vom 3. Juli 2019:
https://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&sid=c0ab674934465891b879f83561c55991&nr=101285&pos=0&anz=3 


Nach dem Grundsatz: Gleiches Recht für alle, müssen die vom Bundesgerichtshof klargestellten Grundrechte auch für Psychiatriepatienten gelten. Das bedeutet, sie haben u.a. die folgenden Rechte:
(1)
Freiheit zur (angeblichen) "psychischen Krankheit", wie auch immer diese definiert wird;
das Recht, psychiatrische „Behandlungen“ abzulehnen - auch dann, wenn der betreffende Psychiater sie für angezeigt hält;
das Recht, in Bezug auf die eigene Person (aus psychiatrischer Sicht) „Unvernünftiges“  zu tun und
das Recht psychiatrisches Gebotenes zu unterlassen;
(2)
und zwar selbst dann, wenn die Person (angeblich) nicht mehr zu eigenverantwortlichem Handeln fähig ist.


B) Zeitschrift Recht & Psychiatrie 2020: Zwang in Psychiatrie unnötig
In der Zeitschrift Recht & Psychiatrie 1/2020 wurde kürzlich ein Artikel mit dem Titel "Ohne Zwangsmaßnahmen in Israel – eine unerwartete Erfahrung" veröffentlicht. Dort wurde geschlussfolgert, dass zwangsweise und gewaltsame "Behandlung" (Nötigung, Isolation, Fixierung, Zwangsmedikation etc.) weder hilfreich noch notwendig sind. Ein Auszug:

"Im Jahr 2014 während des Konflikts „Protective Edge“ zwischen Israel und der Hamas in Gaza war die Stadt Beersheva vier Wochen lang häufigen Raketenangriffen ausgesetzt. Alle Fixierungen (4-Punkt-Fixierungen) und Isolierungen (Einsperren in einem gepolsterten Raum) waren während dieser vier Wochen verboten, damit alle Patienten innerhalb von 30-45 Sekunden in raketensichere Räume gebracht werden konnten. Während des gesamten Monats ohne Fixierungen und Isolierungen fanden die Teams der psychiatrischen Klinik in Beersheva alternative Lösungen. Dabei wurde improvisiert und es gab keine Zwischenfälle, bei denen jemand zu Schaden kam, weil es keine Fixierungen und Isolierungen mehr gab.
Diese Erfahrungen machten Mut für die Implementierung eines Programms, das ohnehin schon seit zwei Jahren geplant, aber bisher noch nicht umgesetzt war."

Quelle:
Zeitschrift Recht & Psychiatrie, Ausgabe 1/2020, IHV, Umschau Seite 59:
https://psychiatrie-verlag.de/product/editorial-und-inhaltsverzeichnis-rp-1-2020/ 
Ganzes Heft: https://psychiatrie-verlag.de/product/recht-psychiatrie-1-2020/


C) Der deutsche Psychiater
 Dr. Martin Zinkler, Leiter der Klinik für Psychiatrie Heidenheim, fordert seit Jahren öffentlich eine Psychiatrie ohne Zwang und praktiziert diese selbst in seiner Klinik erfolgreich. Am 27. April 2017 erläuterte er seine Erfahrungen als Sachverständiger in der öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses im Deutschen Bundestag zum Thema "Medizinische Zwangsbehandlungen". Auch im Beitrag "Ohne Zwang - ein Konzept für eine ausschließlich unterstützende Psychiatrie" in Recht & Psychiatrie 4/2019 beschrieb Dr. Zinkler sein Konzept, die Umsetzung und Resultate im Detail.


D) Am 26. Juni 2019 tagte die Parlamentarischen Versammlung des Europarates in Straßburg zum Thema: "Ende des Zwangs in der Psychiatrie: die Notwendigkeit eines menschenrechtsbasierten Ansatzes".

Die Menschenrechtskommissarin des Europarates, Dunja Mijatović, gab in ihrer Rede unter dem Titel: "Es ist an der Zeit, den Zwang in der Psychiatrie zu beenden" hierzu folgende Erklärung ab: (unautorisierte Übersetzung aus dem Englischen, fett hinzugefügt)

"Was Zwang in der psychischen Gesundheit letztlich tut, ist, diejenigen zum Schweigen zu bringen und zu isolieren, die bereits an psychischen Erkrankungen leiden. Entscheidend ist, dass es unsere Fähigkeit verringert, zuzuhören und auf ihre Bedürfnisse zu reagieren.

Historisch gesehen waren Ablehnung und Isolation unsere Standardreaktion auf Menschen mit psychosozialen Behinderungen. Diese tief verwurzelte Angst ist in uns immer noch sehr stark und schürt das Vorurteil, dass sie automatisch eine Gefahr für sich selbst und für die Gesellschaft sind, entgegen aller verfügbaren gegenteiligen statistischen Beweise.

Die Berichterstatterin weist darauf hin, dass es nicht genügend wissenschaftliche Beweise gibt, um den Nutzen von Zwang bei der Verringerung des Schadens zu belegen, während es zahlreiche Beweise für den – und manchmal irreparablen – Schaden gibt, den unfreiwillige Unterbringung und Behandlung bei den Patienten verursachen können.

Es gibt auch Hinweise darauf, dass der Rückgriff auf Zwang oft mehr mit Gewohnheit, einer Kultur des Wegsperrens und dem Fehlen von Alternativen als mit therapeutischer Notwendigkeit zu tun hat. ...

Die Berichterstatterin selbst verweist auf die negativen Auswirkungen unfreiwilliger Maßnahmen auch auf die Dienstleistungserbringer.
Es gibt Dienstleister für Menschen mit Behinderungen, die die Zwangsausübung stoppen wollen, aber keine Alternativen haben oder nicht kennen.
Ich stimme mit der Berichterstatterin und dem Ausschuss für soziale Angelegenheiten, Gesundheit und nachhaltige Entwicklung darin überein, dass ein System der psychischen Gesundheit, das einen menschenrechtsbasierten Ansatz vollständig integriert, der beste Weg ist, Menschenrechtsverletzungen in Zukunft zu vermeiden. (...)

Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD) ist eine der größten Errungenschaften der letzten Jahre in Bezug auf die Menschenrechte. Es war das Ergebnis einer unermüdlichen Kampagne von Menschen mit Behinderungen, einschließlich psychosozialer Behinderungen, um sich Gehör zu verschaffen. Was sie sagen, ist vollkommen rational und auf Menschenrechten beruhend: Sie sagen, dass sie gleich behandelt werden wollen und nicht aufgrund ihrer Behinderung diskriminiert werden wollen. (...)

Es ist unsere Pflicht, unsere Mitgliedstaaten zu ermutigen und zu unterstützen, einen menschenrechtsbasierten Übergang ihrer Systeme der psychischen Gesundheit einzuleiten, um den Zwang zu verringern und zu beenden, was längst überfällig ist. Wir müssen heute beginnen, wir müssen jetzt beginnen."

Quelle:  Rede von Dunja Mijatović, Menschenrechtskommissarin,
vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarates am 26.06.2019:
https://www.coe.int/en/web/commissioner/-/it-is-time-to-end-coercion-in-mental-health 

In keinem anderen Land hat die Psychiatrie in der Vergangenheit so viele Verbrechen gegen die Menschlichkeit begehen können, wie in NS-Deutschland. Zwang und Gewalt in der heutigen Psychiatrie müssen hier ein Ende haben, so wie es auch die Parlamentarische Versammlung des Europarates fordert.

Wir fordern Sie auf, ein bedeutendes Exempel für das 21. Jahrhundert zu statuieren und sich jetzt für eine gewaltfreie Psychiatrie einzusetzen.
Jegliche Zwangsbehandlung in der Psychiatrie muss komplett abgeschafft und verboten werden. Etwaige Gesetze (z.B. PsychKGs, Betreuungsrecht), die noch Schlupflöcher für Zwangsbehandlung enthalten, müssen dementsprechend geändert werden.

Mit freundlichen Grüßen

Andreas Quitt

Kommission für Verstöße der Psychiatrie
gegen Menschenrechte Deutschland e.V.
Beichstaße 12
80802 München

Tel.: 089 - 273 03 54, Fax: 089 - 28 98 67 04
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