Unbequeme Fragen zum Elektroschock
München, den 19. 12. 1978
Um zu erkunden, in welchem Umfang die umstrittene Elektroschockbehandlung an psychisch Kranken noch Anwendung findet, wandte sich jetzt die "Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte e.V." (Sitz München) in einem fünfseitigen Schreiben an alle Direktoren der bundesdeutschen psychiatrischen Krankenhäuser.
Schon 1976 führte die Kommission eine derartige Umfrage durch. Damals sprachen sich 70 Prozent der Klinikdirektoren für die Schockmethode aus, aber auch eindeutige Absagen, wie "mich wird niemand mehr dazu bringen, diese anachronistische Therapie wieder einzuführen" oder "wir ließen unser Schockgerät verschrotten" fanden sich unter den Antworten. Die Initiative der Kommission hatte seitdem immer wieder zu scharfen Auseinandersetzungen in psychiatrischen Fachkreisen geführt. Nun soll ermittelt werden, ob sich in den letzten beiden Jahren ein Sinneswandel vollzogen hat, wobei den Psychiatern unbequeme Fragen zum Elektroschock nicht erspart bleiben.
So weisen die Schockkritiker darauf hin, dass durch behutsame Namensänderung - oft ist nämlich von "Heilkrampfbehandlung" oder "Durchflutungsbehandlung" die Rede - Patienten und Angehörige über den wahren Charakter der Strombehandlung hinweggetäuscht werden können.
Ebenso wird den Klinikdirektoren vorgehalten, dass die Befürworter des Schocks, einer Methode, die vor 40 Jahren der italienische Psychiatrieprofessor Ugo Cerletti einführte, nachdem er im Schlachthof beobachtete, wie Schweine mit Strom betäubt wurden, den Erfolgsnachweis bis heute schuldig blieben. Vielmehr scheint oft der Glaube an die Stromkur ausschlaggebend zu sein. Dazu werden die Klinikdirektoren an einen Vorfall erinnert, der 1974 in einer englischen Klinik Aufsehen erregte. Zweieinhalb Jahre lang wurden dort Patienten mit Elektroschocks behandelt, bis Techniker feststellten die Schockmaschine funktionierte überhaupt nicht.
Auch auf zahlreiche Beschwerden von mit Elektroschock behandelten Patienten weist die Kommission in ihrem Schreiben hin, wobei besonders schwere Gedächtnisstörungen und Persönlichkeitsveränderungen auftraten. Ein Diplom-Ingenieur, der wegen einer Depression 9 Elektroschocks bekam, beklagte sich: "Nach den Schockbehandlungen stellten sich bei mir zunehmend Gedächtnisstörungen ein, weshalb ich bald meinen guten Arbeitsplatz verlor. Auch Erinnerungslücken traten auf und mein Gefühlsleben ist erheblich gestört. Meine Frau hat sehr darunter zu leiden, ich habe ihr bis heute nichts von den Elektroschocks erzählt." Und eine Akademikerin: "Bereits nach dem ersten Schock konnte ich mich mit keinem einzigen Gedanken an einem bestimmten Text erinnern, den ich jeden Abend zu überdenken pflegte. Meine Bekannten sagen mir ich hätte in jener Schockzeit Ereignisse und Gesprächsinhalte von einem Tag auf den anderen vergessen. Ebenso erklärten sie mir, sie hätten mich entgegen meiner natürlichen Veranlagung oft desinteressiert und antriebsarm erlebt." Aber auch Selbstmordfälle und -versuche nach erfolgter Stromkur wurden der Kommission bekannt. Und die Parlamentarische Versammlung des Europarats gab schon 1977 in einer "Empfehlung über die Lage der Geisteskranken" zu bedenken: "Viele von ihnen neigen dazu, die Hoffnung aufzugeben, jemals wieder völlig gesund zu werden, oder sie möchten nicht mehr dieselben Leiden auf sich nehmen, die sie in psychiatrischen Anstalten erlebt haben und begehen dann Selbstmord."
Während es bisher über eine missbräuchliche Anwendung des Elektroschocks zu Disziplinierungszwecken nur vage Berichte gab, liegen der Kommission nun erstmalig Krankengeschichten aus einer Nervenklinik in der Bundesrepublik vor, die darauf schließen lassen. Patientinnen bekamen Elektroschocks, weil sie "laut", "auffallend; "frech" oder "ordinär" waren, heißt es in Zitaten aus den Krankengeschichten. Die Stellungnahmen der Klinikdirektoren zu diesem Punkt werden von besonderem Interesse sein.
Insgesamt hofft die Kommission mit den Antworten der Klinikdirektoren den genauen Stellenwert ausmachen zu können, den der Elektroschock in der heutigen Psychiatrie besitzt. Sie konnte nämlich feststellen, dass von einigen Psychiatern eine Renaissance der "Heilung aus der Steckdose" angestrebt wird. Prof. Reimers, führendes Mitglied der "Aktion Psychisch Kranke", verdammte Kliniken, die von dieser gefährlichen Behandlungsmethode abrückten, kurzerhand als "schlecht geleitet und untherapeutisch". Den Vogel aber schoss der Kieler Psychiatrieprofessor Boeters ab. Er meinte: "In den USA sind Patienten sogar mit bis zu 1000 Elektroschocks erfolgreich behandelt worden, ohne dass Nebenwirkungen eintraten." Untersuchungen, die sich im Archiv der Kommission befinden, beweisen das Gegenteil. Experimente mit Katzen haben gezeigt, welche Folgen die Stromstöße für das Gehirn haben. Eine Reizung der Gehirnzellen lässt sich schon nach einem Schock beobachten. Nach vier Behandlungen sind Zerfall und Absterben von Nervenzellen unübersehbar. Nach zehn Schocks sieht man einen regelrechten Stromkanal, der sich durch das Gehirn zieht!
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Die KVPM wurde 1972 in München von Mitgliedern der Scientology Kirche gegründet und gehört zum weltweit größten Netzwerk zur Aufdeckung von Missbräuchen in der Psychiatrie.