Kommission für Verstöße der Psychiatrie stellt fest:

Beschwerdeinstanz wird zur Farce

Psychiater sind Angeklagte und Richter zugleich

 

17.3.1976

 

Wie es um die Rechte der psychisch Kranken in unseren Heil- und Pflegeanstalten wirklich steht wollten die Delegationen der Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte e.V. und der Deutschen Liga für Menschenrechte e.V. in Erfahrung bringen. Bei ihrem Rundgang durch die Heilanstalten und Pflegeheime des Rems-Murr-Kreises ermittelten sie dabei mancherlei Merkwürdiges, aber auch Interessantes.

 

Veranlasst durch den Skandal um das Altenheim "Schwester Helga" wollten die Vertreter im Gespräch mit den Anstaltsleitungen deren Kooperationsbereitschaft zur Schaffung einer unabhängigen Beschwerdeinstanz ermitteln. Der Leiter der Anstalt Stetten ist der Meinung, dass das neue Heimgesetz ausreichend ist, obwohl er einräumt, dass "wir noch nicht wissen, was wir konkret tun müssen". Der stellvertretende Direktor des PLK Winnenden gar meint: "Es gibt doch gar keine Interessen zu wahren".

 

 

"Ämter sind nicht ausgerüstet"

 

Der Leiter der als fortschrittlich angesehenen Anstalt Stetten, Pfarrer Schlaich, ist grundsätzlich nicht gegen eine externe Kontrolle und Beschwerdeinstanz für die Insassen psychiatrischer Anstalten. Allerdings fehlt es auch hier an der notwendigen Vorstellungskraft, wie dies durch

zuführen sei. Sowohl dein Landratsamt als auch der Gesundheitsbehörde wird diese Aufgabe nicht zugetraut. "Die Ämter sind fachlich nicht für diese Aufgabe ausgerüstet", so Pfarrer Schlaich. Man versteift sich jetzt auf das neue Heimgesetz, von dem man jedoch "nicht weiß, wie man es durchführen soll". Die Kommission ermittelte: "Es ist eine ständige und unbegründbare Abneigung gegen die Errichtung einer Begehungskommission und eines Patientenanwaltes nicht zu verkennen". Oder fehlt es vielleicht sogar an der wahren Absicht an einer solchen externen Kontrolle. Denn wie Pfarrer Schlaich selbst zugesteht, gibt es immer mal wieder offensichtliche und der Anstaltsleitung bekannte Verfehlungen des Personals an den Patienten, die dem Personal jedoch nicht angelastet, sondern "großzügig" übersehen werden. Denn so der Leiter der Anstalt Stetten: "Entlasse ich erst einen Pfleger, erhalte ich einen noch schlechteren dafür". "Schwester- Helga-Heim" ein Einzelfall?

 

 

PLK: "Keine Interessen zu wahren"

 

Im PLK Winnenden gar war man nicht der Auffassung, dass etwas für die Rechte psychisch Kranker getan werden müsse. Das obwohl Dr. Lang eingesteht, dass es wohl noch mehr "Schwester-Helga-Heime" auch im Rems-Murr-Kreis gibt. Technischer Direktor Dr. Längle bewies zwar seine Kenntnis des Tagesgeschehen, äußerte sich jedoch nicht weiter gegenüber der Kommission. Sein einziger Kommentar: "Sie haben doch gesagt, dass ein Tierschutzverein mehr führ einen gequälten Hund tut, als man für die Rechte psychisch Kranker tue. Mit dieser Einstellung möchte ich überhaupt nicht mit Ihnen diskutieren". Zu einer weiteren Aussage war er nicht zu bewegen.

 

Zu seiner Meinung über die Einsetzung eines Patientenanwaltes befragt, meinte sein Stellvertreter Dr. Lang: "Es gibt doch gar keine Interessen zu wahren". Die Kommission konnte sich des Eindruckes nicht erwehren, dass man hier in Winnenden von Missständen weiß, aber etwas dagegen unternehmen? Nein. Schon das Bemühen darum wird offensichtlich abgelehnt. Denn so Dr. Lang zu der Delegation: "Diese Fragen hängen uns wirklich zum Halse heraus". Auch Elektrokrampfbehandlung wird, trotz der bekanntlich schädlichen Nebeneffekte wie totales Abstumpfen und apathische Lethargie des Patienten laut Dr. Lang nicht nur in Winnenden sondern auch in allen anderen PLKs Baden-Württembergs durchgeführt. Auf die Nebeneffekte angesprochen antwortete er nur mit einem: "Ja ja ist bekannt", da sein Vorgesetzter Dr. Längle, der Leiter der Anstalt Winnenden, ihn über Telefon angewiesen hatte, keine weiteren Auskünfte zu geben. Dazu Kommissionssprecher Kromer: "Muss man sich angesichts einer solchen Einstellung nicht fragen, für wen der Psychiater eigentlich arbeitet? Für den psychisch Kranken? Wie kann jedoch eine Rehabilitierung und Reintegration des Anstaltsinsassen zurück in die Gesellschaft stattfinden, wenn ihm das Selbstverständliche, nämlich seine grundlegendsten Rechte als Mensch, verweigert werden und derjenige, der ihn heilen soll, gar nicht der Auffassung ist, dass er Rechte und Interessen hat?"

 

 

Dr. Benzer: Alles in Ordnung

 

Auch für Dr. Benzer, Leiter eines mit z.Z. 48 Insassen belegten Heimes bei Murrhard, ist alles in Ordnung. "Manchmal muss man im Interesse des Patienten Druck auf ihn ausüben", so Dr. Benzer. Wie solch ein Druck im Interesse des Patienten in der Wirklichkeit aussieht, zeigte sich im Fall einer Patientin, die einunddreißigmahl zwangsweise in die Anstalt Winnenden eingeliefert wurde, weil sie sich weigerte, hochdosierte, schwerste Psychopharmaka wie Neurocil einzunehmen, da sie der Ansicht war, dadurch vergiftet zu werden. Der internationale Psychiatrie-Professor Dr. Thomas Szasz, seinen Kollegen wegen seiner kompromisslosen Kritik oft eine Geisel, betrachtet jede nicht gewünschte psychiatrische Behandlung und Internierung als eine Verletzung der Grundrechte. Was im Interesse des Patienten liegt bestimmt also alleine der Psychiater. Angesichts der Erlebnisse wie z.B. in Winnenden keine angenehme Vorstellung für die Delegationsmitglieder.

 

In allen Anstalten konnten sich die Kommissionsmitglieder davon überzeugen, dass es "einen Beschwerdeweg gibt"; allerdings einen äußerst merkwürdigen. Derjenige nämlich, über den oder über dessen Zuständigkeitsbereich die Beschwerde vorgetragen wird, wird von der Behörde zur Stellungnahme gerufen, und auf diese Stellungnahme hin agiert die Behörde, oder eben nicht. Dazu Kommissionssprecher Kromer: "Im konkreten Fall heißt das folgendes: ein Insasse einer Anstalt wie dem der "Schwester Helga" z.B. beschwert sich bei der Behörde über die Behandlungsmethoden, wie sie bei der Heimleiterin Kouimelis vorkamen. Die Behörde leitet die Beschwerde weiter an die Heimleitung oder den leitenden Anstaltsarzt, die der Behörde wiederum mitteilen, dass der Patient an schwerer Schizophrenie, Wahnvorstellungen etc. leidet, und die Beschwerde natürlich blanker Unsinn ist. Eventuell zusammen mit einer Einladung zur Besichtigung der Anstalt. Damit gibt sich die Behörde zufrieden, oder weist, im günstigsten Fall, die Anstaltsleitung an, dies oder jenes anders zu handhaben. Fazit: nichts geschieht, und niemand bemüht sich, der Beschwerde wirklich nachzugehen und sie zu überprüfen. Den Behörden kann man das jedoch wohl kaum alles alleine in die Schuhe schieben. Sie sind wirklich überlastet. Hier müsste eine externe und unabhängige, jedoch ortsnahe und flexible Beschwerdeinstanz und der Patientenanwalt her, um diese Funktion zu erfüllen".

 

Die Resignation der Psychiater und Anstaltsleitungen hat jedoch in allen Gesprächen sehr deutlich gezeigt, dass in ihren Augen der einzige Ausweg, mehr Geld zu erhalten ist, obwohl bekanntlich gute Lösungen nie mit dem Geld anfangen, sondern mit der konstruktiven Idee, wie man Probleme lösen kann. Die Erfahrung zeigt, dass noch nie in der Geschichte durch bloßes Aufwenden von Geld, Probleme gelöst wurden, wenn nicht vorher die Ideen und Kenntnisse vorhanden waren, wie man Probleme lösen kann. Auf die Frage einer Reform des Anstaltswesen angesprochen, zeigte sich der Kommission eine erschreckende Ideenlosigkeit, indem immer wieder nur die Forderung und das Verlangen nach größerer finanzieller Aufwendung zu Tage kam, anstatt dass man beim Grundlegendsten, nämlich den Rechten der Anstaltsinsassen anfängt. Man verweist hier häufig auf die Enquete über die Lage der Psychiatrie in der BRD, die kürzlich dem Bundestag zugeleitet wurde. Beim sorgfältigen Studium der Enquete kann man sich jedoch des Eindruckes nicht verschließen, dass die offensichtliche Erfolglosigkeit psychiatrischer Behandlung umgemünzt wird in ein Schuldigsprechen der Gemeinschaft, weil sie nicht genügend Geldmittel aufbringe. "Aus den heutigen Gesprächen", so ein Kommissionsmitglied, "ließ sich sehr wohl erkennen, dass nicht die Gesellschaft schuldig ist, sondern dass die Anstalten sich bisher als unfähig erwiesen, ein funktionales Konzept vorzustellen, mit dem es sich auch lohnen würde, Geldmittel zu investieren. Keiner weiß, welches die Grundlagen sein sollen, auf denen die Geldmittel effektiv eingesetzt werden können. Welche Regelungen bestehen, die die gesamte Grundlage für das Anstaltswesen bilden, dass eine Rehabilitierung stattfindet und nicht eine Resignation und ineffektive Investition und sogar Veruntreuung von Geldern - vielleicht nur auf Grund von Kompetenzschwierigkeiten und auf Grund von Kompetenzlosigkeit, wo einer dem anderen den Ball zuwirft und wo keiner zunächst einmal eine Grundidee ausarbeitet, wie man den Karren anfassen will. Die Gespräche zeigten, dass die Psychiater sehr wohl das Alibi, das die Enquete ihnen gibt, aufgegriffen haben, um ihr eigenes Versagen in der Betreuung von psychisch Kranken zurechtfertigen."

 

Bleibt noch der psychisch Kranke, der Leidtragende. Rechte hat er nicht, Gerechtigkeit gibt es für ihn auch nicht. In allen Heimen, die die Delegationen besuchten soll es zwar keine generelle Briefzensur mehr geben, aber in Einzelfällen wird sie auf Anweisung des Psychiaters doch noch durchgeführt. Laut Aussage von Dr. Lang gibt es sie in Winnenden seit 20 Jahren angeblich nicht mehr. Trotzdem "hat das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Sozialordnung im vergangenen Jahr alle psychiatrischen Landeskrankenhäuser in Baden-Württemberg angewiesen, auch bei zwangsweise untergebrachten Personen, keine Briefzensur mehr vorzunehmen", wie Landtagsdirektor Dr. Böhringer der Kommission in einem Schreiben mitteilte. In einem Telefongespräch mit der Kommission ließ der Direktor des PLK Winnenden durchblicken, das man seit 20 Jahren immer wieder über die Abschaffung der Briefzensur berate. Hier gibt es nur einen Ausweg, eine Lösung: die Begehungskommission und der Patientenanwalt. "Hier geht es doch um Menschen wie Du und ich. Dies scheint manch einer vergessen zu haben. Es ist jetzt die Aufgabe des Politikers, die notwendige Gesetzesgrundlage zu schaffen, um der Willkür der Anstalten ein Ende zu setzen", meint Kommissionssprecher Kromer und fährt fort: "Nur durch die Etablierung dieser unabhängigen Instanzen ist es möglich - ohne den Verwaltungsapparat zu belasten - den psychisch Kranken zu seinen Menschenrechten kommen zu lassen und ein wenig Gerechtigkeit in die "modernen Pavillons der Psychiatrie" dringen zu lassen".

 

 

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